Die Forscher und Wissenschaftler Longfei Han, Matthias Frei und Piotr Karbownik müssen sich ein paar Blicke aus vorbeifahrenden Autos gefallen lassen. „Stellen die etwa einen Blitzer auf?“, denken sich wohl manche, während die drei Männer am Straßenrand viel Technik auf großen Stativen befestigen.
Tatsächlich blicken die Wissenschaftler hier an der Münchner Straße in Rosenheim in die Zukunft – und zwar ganz im Sinne des vorbeifahrenden Verkehrs. Mit zwei Sensorboxen wollen sie herausfinden, wie Kamerasysteme und vernetzte Fahrzeuge künftig helfen können, Staus zu vermeiden oder freie Parkplätze zu finden. Ingmar Bretz vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS erläutert es so: „Fast jeder hat heute ein Handy dabei, immer mehr Fahrzeuge sind bereits online. Und 5G macht es nun möglich, dass alle Geräte direkt miteinander kommunizieren. Das eignet sich ideal für die Verkehrssteuerung der Zukunft.“
Das Fraunhofer IIS hat das Automotive Testbed in Rosenheim geschaffen, um neue Verkehrstechnologien auf Basis von Mobilfunk auszuprobieren. Das Bayerische Wirtschaftsministerium fördert dieses Vorhaben im Rahmen der Initiative 5G Bavaria. Seit Mai 2022 steht das Testbed bereit für Versuche. Es soll drei Jahre lang helfen, die neueste Mobilfunktechnologie in bayerische Unternehmen und in unser aller Alltag zu bringen. Die Stadt Rosenheim unterstützt das Projekt, weil sie daran interessiert ist, den Verkehrsfluss in der Stadt zu verbessern.
Rund um Rosenheim ist längst modernes 5G verfügbar
Drei Funkmasten, ein eigenes Computer-Netzwerk und lokale Server für Multi-Access Edge Computing (MEC) haben Ingmar Bretz und sein Team für die Testumgebung in und um Rosenheim aufgebaut. MEC bedeutet, dass Daten am Rand (Edge) eines Netzwerkes verarbeitet werden – nicht in einem fernen Rechenzentrum. Das beschleunigt den Datenaustausch und ermöglicht Echtzeitanwendungen.
Das 5G-Testbed wird vom Fraunhofer IIS und der 5G to go GmbH betrieben. Es steht Unternehmen und Forschungseinrichtungen zur Verfügung, die 5G-Anwendungen ausprobieren wollen: Infrarotkameras und Radare, die den Verkehr analysieren, Busse, die mit Sensoren ausgestattet werden oder Drohnen, die Landwirten wertvolle Informationen über ihre Felder liefern können.
Im gemeinsamen Traffic-Infrared-Radar-Net-Projekt des Forschungsclusters Fraunhofer CCIT und seinen Fraunhofer-Instituten IIS, IVI und IAIS arbeiten Longfei Han, Matthias Frei und Piotr Karbownik mit ihren „Blitzern“, die keine Blitzer sind. An der Münchner Straße, wenige hundert Meter vom Rosenheimer Bahnhof entfernt, installieren sie an einem kalten Wintertag die Messgeräte. Sie wurden extra dafür entwickelt und bestehen aus Batterie und Festplatte, Kabeln zur Stromversorgung, einer Sensorbox mit je einem 3D-Radarsensor und einer Infrarotkamera, einem 5G-Mobilfunkmodem und einem Minicomputer.
Autos, Radler und Fußgänger werden zu tausenden Datenpunkten
Die Technik in den beiden Boxen zeichnet den Verkehr auf: Lastwagen, Autos, Pakettransporter, Radfahrer und Fußgänger – sie alle verwandelt der Infrarotsensor in Grauwert-Bilder. Der Radarsensor macht aus jedem Verkehrsteilnehmer eine 3D-Punktewolke. Über das 5G-Netz werden die Daten an einen Server in der Nähe gesendet und dort verarbeitet. All das geschieht anonym, ohne Rückverfolgung auf Fahrzeuge und Personen.
„Die Infrarotbilder zeigen uns, welche Objekte auf der Straße unterwegs sind, und die Radarsensoren liefern 3D-Daten. So wissen wir, wo die Verkehrsteilnehmer sind und wie groß der Abstand zwischen ihnen ist und wohin und wie schnell sie sich bewegen“, erläutert Longfei Han vom Anwendungszentrum des Fraunhofer IVI in Ingolstadt.
Autonom fahrende Autos können Routen künftig eigenständig planen
Ziel des Projektes ist es, den Verkehr im nächsten Schritt in Echtzeit steuern zu können, erläutert Prof. Klaus Kefferpütz vom Anwendungszentrum des Fraunhofer IVI in Ingolstadt: „Zum Beispiel, indem die Ampelschaltungen an den aktuellen Verkehr angepasst werden, damit es weniger Staus gibt. Oder indem später einmal autonom fahrende Autos mithilfe solcher Daten ihre Route durch die Stadt besser planen und sich situationsabhängig anpassen können.“
Ein anderes Forschungsvorhaben im Testbed will dank 5G Unfälle vermeiden. Das Projekt heißt 5G4Vi0 und wird vom Bayerischen Wirtschaftsministerium gefördert. 5G4Vi0 steht für 5G for Vision Zero. Die Vision Zero beschreibt das Ziel eines Verkehrs mit null Toten und Schwerverletzten. Das Fraunhofer IIS arbeitet bei 5G4Vi0 mit dem Busbetreiber DB Regio und dem Münchner Technologieunternehmen MVI zusammen.
5G-Technologie erkennt Gefahren und verhindert Unfälle
Die Projektpartner erproben die Sidelink-Technologie, die es 5G-Smartphones ermöglicht, untereinander zu kommunizieren. Fährt beispielsweise ein Radfahrer im toten Winkel, kann sie einen Busfahrer darauf aufmerksam machen. Die im Bus eingebaute 5G-Technik registriert die drohende Kollision und warnt. Gefahrensituationen können so früher erkannt und entschärft werden – es passieren weniger Unfälle.
In Rosenheim waren mehrere Busse mit Sensorikkameras unterwegs. Das Fahrpersonal drückte immer dann eine Taste, wenn es eine mögliche Gefahr vermutete: wenn ein Fahrrad zu nah kam, wenn ein Fahrzeug die Vorfahrt missachtete oder ein Fußgänger vor dem Bus über die Straße lief. Die Aufnahme wurde gespeichert. Das Projektteam wertet alle Videos aus, stellt die Situationen auf einem Testgelände nach und probiert, inwiefern sich die Situation mithilfe der 5G-Sidelink-Technologie entschärfen lässt.
Testbed ermöglicht Forschung mitten im realen Geschehen
„5G bietet einzigartige Möglichkeiten, einen vorausschauenden Verkehr zu organisieren“, sagt Stefan Mittermeier von der MVI Group. „Die Daten, die wir bisher im 5G-Testbed Rosenheim sammeln konnten, sind spannend und helfen, der Vision Zero ein Stück näher zu kommen.“ Es sei wichtig, auf den ganz normalen Straßen und mit dem ganz alltäglichen Verkehr in der Stadt zu arbeiten, ergänzt Martin Speitel, der Gruppenleiter Automotive beim Fraunhofer IIS ist. „Uns ist wichtig zu vermitteln, dass 5G nicht nur alles schneller und schöner macht. Sondern dass sich damit Anwendungen erschließen, an die man bisher gar nicht gedacht hat.“
Die Wissenschaftler haben inzwischen ihre beiden Sensorboxen aufgebaut und in einem Messbus voller Technik Platz genommen. Sie wollen herausfinden, ob sie bestimmte Fahrzeuge, die am ersten Standort erkannt wurden, mithilfe der Kameras am zweiten Standort wiederfinden. Eine Künstliche Intelligenz soll Verkehrsteilnehmer an unterschiedlichen Orten wiedererkennen. So ließe sich der Verkehrsfluss in der Stadt in Echtzeit verstehen und darstellen – nicht nur als Modell, sondern anhand der Realität.
Han, Frei und Karbownik testen, wie lange es dauert, bis die Daten der Messgeräte auf dem Server ankommen. Ist es besser, die Daten direkt in der Sensorbox zu verarbeiten oder in der Cloud? Oder in einem Server direkt am Mobilfunknetz, mit so genanntem Edge Computing? Für die Datenverarbeitung per Edge Computing spricht, dass die Rechenleistung zentral gebündelt wird – aber eben nicht in weiter Ferne, sondern direkt am Rand des Rosenheimer 5G-Netzes.
Für ein vollständiges Bild braucht es deutlich mehr Sensorboxen
„Wir erwarten Erkenntnisse, ob die Bandbreite des Mobilfunknetzes ausreicht, um die Daten rechtzeitig von der Sensorbox zum Cloudrechner und von dort zur zweiten Sensorbox zu übertragen“, sagt Matthias Frei. Und was passiert, wenn nicht nur zwei Sensorboxen im Einsatz sind, sondern zum Beispiel 50 Stück in ganz Rosenheim? Dann muss das Mobilfunknetz noch leistungsfähiger sein, dann müssen eventuell noch mehr Daten vor Ort verarbeitet werden.
Um die besten Lösungen zu finden, wollen die Wissenschaftler erst einmal verstehen, wie sich die Verkehrsteilnehmer durch Rosenheim bewegen. Und genau dafür werden sie noch einige Male ihre „Blitzapparate“, die eben keine Blitzer sind, am Straßenrand aufstellen.